Das Märchen von der "iuvenilen Parodontitis" als eigenständigem Krankheitsbild
Konrad Thielmann formuliert 1938 in seiner „Biomechanik der Paradentose“ ein mechanisch-funktionelles Ursachen-Wirkungs-Modell, das sich - obwohl in vielen Teilaspekten in den Folgejahren wissenschaftlich sehr gut belegt - aufgrund seiner Eindimensionalität auf Dauer als nicht tragfähig genug erweist, das große, multifaktoriell bedingte Krankheitsbild „Parodontopathie“ umfassend zu beschreiben. Die aktuelle zahnärztliche Wissenschaft übersieht dieses im Sinne eines bedeutungsvollen Kofaktors wissenschaftlich sehr gut belegte „alte“ Wissen und ersetzt es - anstatt zu integrieren - vollständig durch ein neues, wiederum eindimensionales „Modell der mikrobiologischen Exposition“..
Exemplarisch wird der Zusammenhang zwischen Entzündung und überkritischer Belastung an karies-, parodontitis- und füllungsfreien Zähnen deutlich, die allein aufgrund fortgesetzter, massiver physikalisch-okklusaler Traumatisierung zunächst noch reversibel pulpitisch reagieren, ohne sofortige Intervention bei anhaltendem Trauma absterben und nach Superinfektion grangränös exazerbieren. Einen solchen Zusammenhang für die Parodontitis zu negieren ist kurzsichtig. Jedes menschliche Organ, das über seine biologisch bestimmte Adaptationsfähigkeit hinaus be- und damit überlastet wird, erkrankt. Unterschiedlich ist lediglich die individuelle Fähigkeit zur Kompensation, also die Qualität des Organs an sich. Dies gilt für Lebern, Nieren, Hirne, Gelenke, Ohren, Augen, Muskeln usw. genau so selbstverständlich wie für Zähne, Zahnhalteapparat und Kiefergelenk.
Im folgendem Fall wurde von den Vorbehandlern die Diagnose "iuvenile Parodontitis" gestellt.
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Die Zerstörung des Zahnhalteapparats dieser jungen Patientin betrifft lediglich die Sechser, die insbesondere bei der Laterotrusion überkritisch belastet werden. Der im Mund und auch im gipsmodellarmierten, halbindividuellen Artikulator deutlich werdende Unterschied in der Fehlbelastung zwischen rechts und links (Mastikationsmuster) findet sein exakt korrespondierendes Substrat im Zerstörungsgrad des Zahnhalteapparates bei der Darstellung im Röntgenfillm. |
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Die in Nonokklusion stehende Front ist nicht betroffen. |
Lehrmeinung ist, dass die vorliegende, teilweise weit fortgeschrittene Zerstörung des Zahnhalteapparates nicht Folge seiner primär physikalisch bedingten überkritischen Belastung bei Malokklusion mit anschließender Superinfektion ist, sondern vielmehr typisch für die lokalisierte Form der aggressiven Parodontitis an den zuerst durchbrechenden Zähnen der zweiten Dentition und insbesondere durch die Infektion vor allem mit A. actinomycetemcomitans hervorgerufen wird. Zur Begründung werden zahlreiche wissenschaftliche Studien zitiert. Richtig ist, dass in diesen Studien das Vorhandensein dieser Erreger in den Einbrüchen häufig und in unterschiedlicher Menge nachgewiesen wird. Sie sind ja auch der ideale Ort für ihre ungestörte Vermehrung. Die Folgerung, dass diese Defekte primär auch von diesen Bakterien produziert wurden, ist ein logischer Fehlschluss und bleibt unbewiesen. Die Vermutung, es gäbe Keime, die nur erste Molaren und/oder Frontzähne befallen, treibt das eindimensionale „Modell der mikrobiologischen Exposition“ vielmehr auf die Spitze und gleichzeitig ad absurdum. Denn wenn es Bakterien gibt, die eine besondere Affinität zum mesialen Zahnhalteapparat des Sechsern haben, sollte es auch solche geben, die isoliert denjenigen des distalen Vierers oder vestibulären Siebeners bevorzugen.
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist es ausgesprochen wenig wahrscheinlich, dass es sich bei der sogenannten iuvenilen Parodontitis um ein eigenständiges Krankheitsbild handelt .Dass die ersten Molaren und die Frontzähne als erste bleibende Zähne der zweiten Dentition durchbrechen ist unstrittig. In der Folge müssen sie für eine geraume Zeit die ganze Last der zu diesem Zeitpunkt erfolgenden Bisserhöhung und der Frontzahnführung so lange alleine tragen und ertragen, bis die übrigen Zähne nachrücken und ihren Teil der Last übernehmen. Darüber hinaus wird sich ihre Position in der Zahnreihe schon bei geringem Platzmangel durch die nachher durchbrechenden Zähne, die ihren Platz einfordern, häufig genug noch einmal marginal verändern NACHDEM sie schon einmal in guter Okklusion mit den Antagonisten gestanden haben. Das macht sie besonders empfänglich für die Entstehung von Früh- und Fehlkontakten und das Erleiden eines okklusalen Traumas. Man darf auch nicht vergessen, wie ausgeprägt Kinder manchmal bruxen, wie stark zu diesem Zeitpunkt der Milch-Eckzahn in vielen Fällen bereits abradiert ist, und wie lange es noch dauert bis der bleibende Eckzahn die Position eingenommen hat, in der er seine Aufgabe, die Entlastung der Seitenzähne bei Lateralbewegungen zu übernehmen, erfüllen kann. Wenn also in diesem ausgesprochen sensiblen Zeitfenster schlechte Gewohnheiten massiv ausgeübt werden und/oder in der Folge des Zahndurchbruchs zentrische Frühkontakte und/oder - wie in diesem Falle - Gleithindernisse bei der Laterotrusion entstehen, dann kann man sich sehr leicht vorstellen, dass bereits erste, kleinere oder bereits ausgeprägtere Knocheneinbrüche vorliegen, wenn es im Laufe der Adolezenz zur Konfrontation mit parodontitisrelevanten Erregern kommt.
Wir denken im Sinne der Integration von bekanntem alten und neuem Wissen zu einem Gesamtbild der Parodontopathie, dass es sich bei der sogenannten "iuvenilen Parodontitis" keineswegs um ein eigenständiges Krankheitsbild handelt, sondern vielmehr um eine Superinfektion des primär aufgrund von Fehlbelastung physikalisch vorgeschädigten Zahnhalteapparates mit parodontitisrelevanten Keimen bei unzureichender Immunantwort.