Die Spezialisten bringen manche Patienten wirklich völlig durcheinander.
Da kam neulich diese Kassenpatientin in der Blüte ihrer Jahre mit rezidivierend aufflackernden Zahnschmerzen im linken oberen Quadranten mit verwaschener Aussprache. Typischer Befund bei Zustand nach WF bei Gangrän vor mehr als einem halben Jahr mit leichter Druckdolenz im Vestibulum über der mesialen Wurzelspitze von 26. Eine Röntgenaufnahme hatte sie sogar auch dabei. Am „amazing shape“ war die Spezialistenendo für den Eingeweihten auf Anhieb zu erkennen. Die Beherdung oberhalb der mesiovestibulären Wurzelspitze aber genau so.
Der Zahn habe beim Aufmachen ganz schön gestunken. Die Wurzelkanalbehandlung sei von einer Spezialistin gemacht worden, 1600,- €, eine medizinische Einlage mit so einer weißen Paste für eine Woche bei Sofortverschluss, das habe anfangs ganz schön weh getan. Sie sei aber auch nach der WF nie völlig beschwerdefrei geworden und müsse heute noch gelegentlich Schmerzmittel nehmen. Kein Wunder. Wie kann man auch auf die Idee kommen, einen intradentalen Abszess nach anatomisch bedingt völlig unvollständiger mechanischer Reinigung und Versorgung mit einem „biologisch verträglichen“ Desinfektionsmittel primär zu verschließen? Ubi pus, ibi evacue!
Da die Wurzelfüllung perfekt gewesen sei, und es daran also nicht habe liegen können, habe sie die Spezialistin zu einem Osteopathen geschickt, mit dem sie zusammenarbeite, welcher sie, nachdem er nach etlichen Bemühungen ihre Beschwerden nicht habe beseitigen können, zu einem Schienenspezialisten geschickt habe. 750,- Euro, eigentlich ziemlich preiswert, wenn man bedenkt, dass man in München auch schon mal 2500,- € dafür loswerden kann.
„Haben Sie die Schiene dabei?“
„Natürlich, die muss ich ja immer tragen!“. Sie holt sie aus dem Mund und legt sie auf das Tray.
Aufwendig konstruiert, tiefe Einbisse, aufwendige Eckzahnführung, knallhart und…… natürlich im Unterkiefer. Ist ja völlig logisch. Sie hat Schmerzen im Oberkiefer, der Schienenspezialist schließt messerscharf, dass sie knirscht und/oder presst, was liegt da näher als dafür zu sorgen, dass sie das jetzt nicht mehr auf die eigenen Zähne sondern mit den schmerzhaften Oberkieferzähnen auf die harte Schiene im Unterkiefer macht?
„Was heißt immer? Auch am Tag?“
Wie durch ein Wunder verstehe ich sie plötzlich mühelos: „Die darf ich nicht herausnehmen! Auch nicht zum Essen!“
Jetzt bin ich ziemlich durcheinander. Das hatte ich noch nie erlebt. „Mit dem Ding im Mund können Sie essen?“ frage ich ungläubig und starre die Schiene an.
„Na ja, geht schon irgendwie.“ Sie nimmt mir blitzschnell die Schiene aus der Hand und steckt sie hastig wieder in den Mund. Shit, da war ich zu langsam. Schon geht das Genuschel wieder los.
„Ich bin dann noch bei einem anderen Spezialisten für Wurzelbehandlungen gewesen. Der hat gesagt, dass die gar keine richtige Spezialistin für Wurzelbehandlungen ist. Aber der will die Behandlung selber nicht noch einmal machen, weil er mir nicht versprechen kann, dass die Beschwerden dann weg sind.“
Bei der Untersuchung mit Schiene im Mund, wobei ich sie wie immer liebevoll in den linken Arm nehme, und sie mir in der Folge ihren Unterkiefer willig überlässt, erweist sich die Patientin als eugnath und muskulär entspannt, die Schiene jedoch als nicht in entspannter Zentrik adjustiert. Ich nehme sie ihr blitzschnell und ohne Vorwarnung heraus und lege sie wieder auf das Tray. Ohne Schiene zeigt sich ein dicker Frühkontakt mitten auf der Kunststofffüllung, die die Trepanationsöffnung der Krone an 26 verschließt. Ich greife mit der rechten Hand routinemäßig zu einem roten Winkelstück und mit der linken nach einer dicken Kugel. Kaum, dass ich keine Hand frei habe, schnappt sie blitzschnell nach ihrer Schiene, steckt sie sich wieder in den Mund und nuschelt:
„Was haben Sie vor?“
„Sie haben einen dicken Fehlkontakt auf dem wurzelbehandelten Zahn. Den schleife ich Ihnen schnell ein!“
„Einschleifen lasse ich mich nicht! Das macht alles noch schlimmer!“
„Gnädige Frau, was heilen soll, muss ruhig gestellt werden. Das gilt für einen gebrochenen Arm genau wie für einen Zahn! Ihre Muskulatur ist nicht verspannt. Sie brauchen keine Schiene. Und wenn doch, dann bestimmt nicht solch eine, sonders höchstens eine in Ihrer entspannten Zentrik adjustiere für den Oberkiefer und nur für die Nacht! Ich weiß auch nicht, ob es daran liegt, dass Sie diese Beschwerden haben. Aber solange dieser erkrankte Zahn völlig überlastet ist und eine größere Last tragen muss als die gesunden Zähne, wird er sich auf keinen Fall beruhigen! Also erst mal weg mit dem Frühkontakt und der Schiene, dann sehen wir weiter!“
„Einschleifen lasse ich mich auf keinen Fall!“
Langsam aber sicher schwillt mir der Kamm. „Was wollen Sie überhaupt von mir? Sie klagen über Beschwerden, ich finde eine mögliche Ursache, aber sie wollen sich nicht behandeln lassen. Was ich da machen will, dauert keine Minute und tut überhaupt nicht weh!“
„Einschleifen lasse ich mich nicht!“
„Weshalb sind Sie denn dann zu mir gekommen? Nur um mich zu quälen?“
„Ich habe doch diese Schmerzen! Sie machen doch diese besonderen Wurzelkanalbehandlungen. Habe ich im Internet gelesen!“
„Ich soll die Revision machen? Das werden Sie ja wohl nicht von mir verlangen. Das ist eine Höllenarbeit. Eine Revision ist schon bei einer schlechten Wurzelfüllungen häufig nicht ganz einfach. Aber bei diesen Spezialistenfüllungen fummelt man manchmal stundenlang herum. Die pressen da jede Menge Guttapercha rein und verwenden so harte Sealer, dass man das kaum wieder rauskriegt. Und wenn man richtig Pech hat, kleben sie auch noch Stifte mit Kunststoff in den Kanal und machen die Revision genau so zur Plage wie zum Glücksspiel. Das müsste echt verboten werden! Am Ende ruiniert man dann noch den Zahn!“
„Aber ich habe doch diese Beschwerden!“
„Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie gehen jetzt zu ihrer Spezialistin zurück. Für die 1600,- €, die Sie bezahlt haben, können Sie doch wohl verlangen, dass sie das alles schön wieder raus macht, wenn Sie Beschwerden an dem Zahn haben. War doch erst vor einem halben Jahr. Wenn dann alles raus ist, kommen Sie wieder her, und dann desinfiziere ich Ihnen den Zahn ganz sorgfältig und so lange, bis die Bakterien tot und die Beschwerden weg sind!“
„Sie machen da aber so ne giftige Flüssigkeit rein!“
„Ich mache da keine giftige Flüssigkeit rein, sondern ein potentes Desinfektionsmittel ohne Nebenwirkungen, das zwar nicht als bioverträglich gilt, dafür aber die Bakterien umbringt! Das hat bisher noch jeder vertragen.“
„Ich habe aber gehört, dass das Zeugs giftig ist!“
Jetzt bin ich zwar endgültig kurz vorm Ausrasten, zum Glück aber auch völlig sprachlos. Ich starre einen Moment vor mich hin und versuche meine Fassung zurück zu gewinnen. Dabei schießt mir plötzlich der Gedanke durch den Kopf „Mensch, Rüdiger, das wolltest Du doch immer schon mal versuchen!“
Ich setze ein möglichst vergeistigtes Gesicht auf, lege ihr meine rechte Hand auf den Kopf und die linke auf die Schulter, lasse meine Restenergie möglichst frei fließen und höre mich von sehr weit weg sagen „Schmerz geh weg, Schmerz geh weg, Schmerz geh weg!“ Durch einen kleinen Schlitz meiner fast geschlossenen Augenlider beobachte ich dabei mit Genugtuung ihren jetzt völlig perplexen Gesichtsausdruck.
„Sie gehen jetzt nach Hause und legen sich in ein abgedunkeltes Zimmer. Sie werden dann gleich einschlafen. Wenn Sie wieder aufwachen, sind die Zahnschmerzen weg und Sie ein völlig neuer Mensch!“ Und ehe sie mir noch was entgegennuscheln kann, flüchte ich aus ihrem Zimmer in das nächste und mache die Türe ganz, ganz fest zu.
Sie ist dann gegangen und nie wieder gekommen. Ich gehe bis zum evidenzbasierten Beweis des Gegenteils davon aus, dass die eingeschlagene Therapie in diesem konkreten Falle indikationsgerecht und in der Folge zwangsläufig erfolgreich war. Dieses erste Mal habe ich das gerne umsonst gemacht. Das nächste mal berechne ich mindestens 99,- €. Ist doch kein Geld für eine solch minimalinvasive Behandlung. Noch drei- oder viermal, dann bin ich Spezialist und werde die Preise deftig erhöhen. Schlechter als diese 1600,- Euro- Wurzelbehandlung können meine Ergebnisse in keinem Fall ausfallen.
Schlange werden sie stehen, wenn sich das rumspricht. Mindestens bis zum Siegestor!“