Die derzeitige Lehrmeinung ist, dass man aus parodontalen Gründen nichts verblocken darf, da der Zahnhalteapparat dadurch Schaden nimmt. Man kann jetzt natürlich die Position einnehmen, es handele sich ja nur um eine Lehrmeinung und diese sei eben auch nur eine von vielen Meinungen.
So einfach ist es aber nicht. Man darf schließlich den Einfluss und die Power einer solchen Meinung, wenn sie als sogenannte Lehrmeinung daherkommt, nicht unterschätzen. Sie kann leicht eine ganze Zahnarztgeneration beeinflussen und diese blind machen gegenüber Situationen, die eine abweichende Versorgung erfordern. Gar zu leicht kann eine solche Lehrmeinung außerdem dazu herhalten, eine abweichende Meinung zu desavouieren und eine Arbeit, die abweichende von der Lehrmeinung angefertigt wurde, in die Kunstfehlerecke zu schieben. Es macht also durchaus Sinn, über die Gründe nachzudenken, wie eine solche, in unseren Augen falsche Meinung, entstanden ist.
Zu einer anderen Zeit galt nämlich eine ganz andere Meinung als aktuelle Lehrmeinung. Vor einigen Jahren glaubte man noch fest, man müsse alles verblocken.
Allein daran, dass also die Meinungen im Laufe der Zeit wechseln, kann man ersehen, dass wohl beide Meinungen, wenn sie als Dogma verkündet werden, falsch sind. Dogmen sind immer falsch. Sie können gar nicht anders als Irrlehren beschreiben, weil sie die vielen Mosaike, mit denen wir täglich konfrontiert sind, nicht berücksichtigen können.
Die Lehrmeinung, man müsse alles verblocken, entstand vor dem Hintergrund mangelhafter Kenntnisse über die Parodontolgie. Zahnverlust galt in der Folge fortschreitenden Knochenabbaus aufgrund von Parodontitis als schicksalsbedingt. Ein schönes Beispiel für diesen Glauben ist der Ausspruch des Volksmundes: „Jedes Kind kostet einen Zahn“. Daran war früher durchaus etwas Wahres dran. Warum?
Die Mundhygiene war in der Regel schlecht. In der Schwangerschaft verschärfte sich die Situation, weil sich die Parodontitis, unter der praktisch jede Frau damals litt, unter dem Einfluss der Schwangerschaftshormone verstärkte. Die Zähne wurden in der Folge lockerer und einer fiel eben irgendwann aus, spätestens dann, wenn sich die betreffende Frau durch die schwere Geburt „durchbeißen“ musste. Dass es früher wie heute so manches Problem während einer Schwangerschaft gab, das man „durchkauen“ musste, wird jedem einleuchten.
Diesem Umstand der Zahnlockerung bei Parodontitis versuchte man bei der prothetischen Versorgung dadurch zu begegnen, idem man alles ohne Rücksicht auf Indikation oder Kontraindikation zu verblocken. Geholfen hat es sicher, wenn auch nur für einen gewissen Zeitraum.
Dann eroberten die Erkenntnisse der Parodontologie aus dem Ausland auch den Deutschen Raum. Man sah, dass die Parodontitis an (regelwidrig) verblockten Zahnkronen gegenüber freistehende Einzelkronen deutlich gesteigert war und zog daraus die falschen Schlüsse, in dem man diese Erkenntnisse dahingehend interpretierte, dass die Verblockung verantwortlich für die Parodontitis an diesen Pfeilern sei.
Heute wissen wir, dass das nicht richtig ist. Entscheidend ist die Mundhygiene und die punktförmige, auf den eigentlichen Kontaktpunkt reduzierte lege artis-Verblockung, die der Papille genügend Raum lässt, um sie nicht zu quetschen, und gleichzeitig Platz genug lässt, eine ordentliche Mundhygiene mit Superfloss und den passenden Interdentalbürstchen zu treiben. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, können schwache Pfeiler ohne negative Folgen zu soliden Einheiten verblockt werden.
Man kann also heute sagen, dass die zahnärztliche Kunst darin besteht, die richtige Entscheidung darüber zu treffen, das zu verblocken, was verblockt werden muss, und das nicht zu verblocken, was nicht verblockt zu werden braucht.
Rückblickend können wir uns an viele Fälle mit Zahnverlust nach prothetischer Versorgung erinnern, in denen wir uns später geärgert haben, nicht verblockt zu haben. An Fälle, in denen wir uns geärgert haben, verblockt zu haben, können wir uns eigentlich nicht erinnern.