….oder „coronal leakage“, wie es korrekt auf Neudeutsch heißt.

Zahnärzte sind empfindsame Seelen, die es wahrscheinlich umbringen würde, zugeben zu müssen, dass die Ursache für einen regelmäßigen therapeutischen Misserfolg in ihrem eigenen, unkonsequenten oder fehlerhaften Handeln zu suchen und zu finden ist, und nicht etwa in der Unzulänglichkeit der zu Verfügung stehenden und/oder verwendeten Materialien, der angeborenen Schwächen der Patienten oder gar deren im Sinne von Gesundheit in ihren Augen verantwortungslosem Lebensstil.

Möglicherweise ist der Umstand, dass sie die Gründe für Misserfolge so ungern bei sich selbst und so ausdauernd bei anderen suchen, zu einem nicht unerheblichen Teil dafür verantwortlich, dass der Fortschritt in der Zahnerhaltung so unerträglich langsam vorankommt. Denn wie sonst ist nachvollziehbar, dass eine umfassende Beschreibung der Ursachen der Endodontitis und ihrer indikationsgerechten Behandlung bereits vor 100 Jahren durch den genialen deutschen Zahnarzt Otto Walkhoff erfolgt ist, ohne dass sie bis heute vollständig Eingang in die zahnärztliche Lehre gefunden hat? Und wie sonst ist begreifbar, dass die Ausheilungsquoten für eine zwar fortgeschrittene, aber dennoch einfache bakterielle, gangränöse Infektion, die aus einem wohl definierten Hohlraumsystem auf Zahnhalteapparat und Knochen übergegriffen hat, für die deutsche zahnärztliche Allgemeinpraxis mit maximal 50 % und für die endodontische Spezialistenpraxis mit 70-80 % angegeben werden muss?

Man stelle sich einmal vor, dies wäre beispielsweise bei Lungenentzündungen der Fall.

Und wie sonst ist nachvollziehbar, dass unter Missachtung eines der ältesten allgemeingültigen medizinischen Lehrsätze „Ubi Pus, ibi evacua“ (Wo Eiter ist, da sorge für eine Abfluss) an den Universitäten Lehrmeinung ist, dass eine gangränöse Pulpa, also ein intradentaler Abszess nach aufgrund der Anatomie zwingend unvollständiger, nämlich nur maximal 50%iger mechanischer Reinigung und Desinfektion, primär zu verschließen sei? Diese falsche Lehre verleitet Generationen von Zahnärzten zu einer Therapie, für die jeder Chirurg aufgrund der sich daraus zwingend ergebenden Komplikationen in Form von verlustig gehenden Körperteilen zurecht und sehr schnell sowohl seine Patienten als auch seine Approbation verlieren würde. D

Da nicht sein kann, was in den Augen der Zahnwurzelbehandler nicht sein darf, wird die Exazerbation nach endodontischer Therapie und die Ausbildung und das Nichtausheilen von Granulomen nicht etwa einfach und aufgrund der komplizierten Anatomie des endodontischen Hohlraumsystems auch wahrscheinlicher und vor allen Dingen logisch nachvollziehbarer mit dem Belassen und Überleben von Keimen nach unvermeidbar unvollständiger mechanischer Reinigung und vermeidbar mangelhafter Desinfektion mit impotenten Desinfektionsmitteln erklärt, sondern lieber mit dem die Schwächen der eigenen Bemühungen ausblendenden sogenannten „Koronalen Leck“, durch das eintretend sich die Bakterien durch die gesamte nahrungslose Wurzelfüllung unermüdlich hindurchkämpfen, um endlich die Wurzelspitze zu erreichen, um daselbst den Knochen zu infizieren. Warum sollten sie das tun? Wie sollen sie das schaffen? und vor allen Dingen, in wie kurzer Zeit?

Obwohl es mittlerweile die Spatzen von den Dächern pfeifen, dass Ca(OH)2 ein für die Elimination zahlreicher wichtiger Erreger der Endodontitis unwirksames Desinfektionsmittel darstellt, weil diese resistent gegen seine keimtötende Wirkung sind, wird auch den Schweizer Kollegen in einer neueren Ausgabe ihrer zahnärztlichen Monatszeitschrift als Therapie der Wahl empfohlen, bei Pulpitis ohne jegliche desinfizierende Zwischeneinlage in gleicher Sitzung und bei Gangrän nach einer einmaligen, einwöchigen Einlage mit Ca(OH)2 abzufüllen. Dass im Augenblick des therapeutischen Eingriffs ausgesprochen häufig eine partielle Gangrän vorliegt, die aber diagnostisch nicht abzugrenzen ist, wird dabei völlig übersehen oder ignoriert. Man wundert sich immer wieder, wie man auf so einen klitzekleinen Ausschnitt von Medizin spezialisiert sein kann, ohne daselbst die wenige Literatur zu überblicken oder richtig einzuordnen.

Zum Glück wird das aufgrund der mangelhaften Therapiekonzepte seit 100 Jahren Bekannte und „offen Sichtliche“ in neuen Untersuchungen endlich auch wissenschaftlich nachgewiesen:

Es ist in der Regel nicht das Koronale Leck, sondern es sind natürlich die bei der primären Versorgung belassenen Keime, die die Exazerbationen und die Ausbildung bzw. das Nichtausheilen der Granulome verantworten. Und die bei Therapiebeginn vorhandenen, oder nach der Therapie auftretenden apikalen Aufhellungen und/oder Granulome sind entgegen der gültigen Lehrmeinung sehr wohl mit zahlreichen unterschiedlichen Keimen beladen. Dass es sich bei der dogmatischen Lehre, die Keimbesiedlung bei Endodontitis sei streng auf das Hohlraumsystem beschränkt und das Granulom daher per Definition steril, um eine falsche Lehrmeinung handeln muss, kann ohne komplizierten wissenschaftlichen Beweis allein durch auf guter Kenntnis der Anatomie begründetem logischen Nachdenken gefolgert werden. Denn zwischen dem Zahn und seinen benachbarten Strukturen gibt es keinerlei Barriere, wie sie etwa ein Lymphknoten darstellt, die die Keime daran hindern könnte, sich über die Dentinkanälchen und die Foramina auf eben diese benachbarten Strukturen auszubreiten. Der Zahn ist zu Ende, dann kommt der Peridontalspalt, dann beginnt der Knochen. Es tut uns aufrichtig leid, aber es gibt dort kein Geheimnis. Die mangelhafte Resistenz gegen ein Übergreifen der edodontischen Infektion wird um so weniger behindert als Knochen zwar blutreich, aber dennoch ausgesprochen schlecht durchblutet ist.

Leider wird es aufgrund Trägheit der Lehre und der Macht der Nacherzählungen nichtsdestotrotz sicher mehr als eine zahnärztliche Generation dauern, bis das Märchen vom Koronalen Leck ins Reich der Fabeln verwiesen sein wird und eine sicher voraussagbar erfolgreiche, indikationsgerechte Behandlung fortgeschrittener Infektionskrankheiten in anatomisch komplizierten Hohlraumsystemen an den zahnmedizinischen Universitäten gelehrt werden wird.

Ausgangs-OPT vom Mai 1997 (Klick!)

Dieser relativ jugendliche männliche Patient kam 1997 in unsere Behandlung, weil er seine Eltern davon überzeugt hatte, dass er nunmehr entschlossen sei, das Lotterleben aufzugeben, um doch noch ein wertvolles, festsitzend prothetisch versorgtes Mitglied dieser Gesellschaft zu werden, wozu wir ihm verhelfen sollten.

Zustand nach endodontischer Sanierung und Versorgung mit Aufbaufüllungen mit Ketac-Zem unmittelbar vor Begutachtung des zur prothetischen Versorgung eingereichten Heil – und Kostenplanes im Juli 1997. Bitte beachten Sie insbesondere die apikalen Ostitiden bei 16, 26 und 47 (Klick!)

Nach konservierender, insbesondere endodontischer Sanierung mit der Methode der sorgfältigen Desinfektion suchte der Patient den von der Krankenkasse bestellten Gutachter auf, der den Behandlungsplan genehmigte. Wenn wir geahnt hätten, dass er sich die Sache doch noch einmal anders überlegen und wieder ins Milieu abtauchen würde, hätten wir die Aufbaufüllungen sicher nicht aus Ketac-Bond, sondern vielmehr aus Amalgam gefertigt, wie wir es z.B. immer dann machen, wenn sich Patienten die notwendigen Kronen auf von uns sanierten Zahnruinen momentan nicht leisten können. Shit happens. In diesem Fall jedoch wenigstens nicht nur Pech für den Patienten und den Behandler, sondern auch insbesondere für das Märchen vom „Koronalen Leck“.

OPT im Juli 2004 (Klick!)

Im Juli 2004 suchte der Patient uns nämlich erneut mit Schmerzen an 27 auf. Ganz offensichtlich ist zwischenzeitlich keinerlei Therapie erfolgt. Der Theorie vom koronalen Leck folgend, sollten wir nach 7 Jahren Versorgung mit Aufbaufüllungen aus Ketac-Bond, die sicher nach nicht mehr als 3 Monaten ausgedehnte koronale Lecks aufwiesen, ausgedehnte apikale Ostitiden über allen wurzelbehandelten Zähnen sehen. Eher das Gegenteil ist jedoch der Fall. Die vormals ausgeprägten Aufhellungen insbesondere an 16, 26 und 47 sind nicht vergrößert, sondern vielmehr eher verkleinert bzw. sogar ausgeheilt. Ganz offensichtlich haben die sieben Jahre alten Wurzelfüllungen mit Endomethasone und Guttapercha in Einstiftmethode ausgereicht, das Durchwandern mit Keimen und anschließender Ausbildung von Granulomen trotz Abwesenheit jeglicher Verschlussfüllungen oder -kronen – also maximalem koronalen Leck- zuverlässig zu verhindern.

Kontrollaufnahme nach WF und Stiftversorgung an 13 im Februar 2000. Beachten sie die leichte Aufhellung um die Wurzelspitze (Klick!)

Diese Patientin suchte uns im Februar 2000 mit einem relativ tief frakturierten, gangränösen Brückenpfeiler 13 auf, den wir nach sorgfältiger Desinfektion und WF mit einem Radixanker und Kunststoff in SÄT wieder aufgebaut haben. Darüber hinaus wurden die insuffizienten Wurzelfüllungen an 11 und 21 revidiert. Da ihre finanziellen Mittel zu diesem Zeitpunkt ausgesprochen eingeschränkt waren, haben wir die verständlicherweise nicht mehr dicht abschließende, insgesamt ausgesprochen schlecht passende Brücke nichtsdestotrotz rezementiert und die Patientin mit dem Hinweis entlassen, dass die durchgeführten Maßnahmen keine langfristige Lösung des Problems darstellten, und die Brücke innerhalb eines Jahres zu erneuern sei.

OPT im Juli 2004 (Klick)

Mehr als 4 Jahre später stellte sich die Patientin erneut bei uns vor. Sie gab an, schon seit Längerem bemerkt zu haben, dass die Brücke rechts leicht gelockert gewesen sei, aber so richtig schlimm sei es erst in den letzten Monaten geworden. Die klinische Untersuchung ergab, dass lediglich der Brückenpfeiler 22 nicht abzementiert war. Auch in diesem Fall finden keinerlei Anzeichen von Aufhellungen in Folge von Durchwanderung der Wurzelfüllungen aufgrund eines unzweifelhaft vorhandenen koronalen Lecks, weder an den beiden Einsern und besonders nicht am jetzt sehr tief zerstörten 13, bei dem die ehemalige Aufhellung im Bereich der Wurzelspitze vielmehr deutlich verkleinert, wenn nicht sogar ausgeheilt erscheint.

Oral Surg Oral Med Oral Pathol Oral Radiol Endod. 2000 Sep;90(3):354-9.

Periapical status of root-filled teeth exposed to the oral environment by loss of restoration or caries.

Ricucci D, Grondahl K, Bergenholtz G.

Department of Oral Diagnostic Radiology, Faculty of Odontology, Goteborg University, Sweden.

OBJECTIVE: Studies in vitro carried out on extracted teeth have demonstrated that bacterial elements may penetrate root fillings from the coronal to the apical end after a period of exposure to artificial saliva or bacterial culture. To address the clinical significance of this so-called issue of coronal leakage, a retrospective cohort analysis was conducted of 55 patients with root fillings that had been exposed to the oral environment because of caries or absent restorations. STUDY DESIGN: Cases were matched 1-to-1 with regard to initial pulpal and periapical diagnosis, period after completion of endodontic therapy, tooth type, age of the patient, and the technical quality of the root filling. Only cases with a follow-up period of 3 years or more were included. Radiographs taken at the last follow-up examination were subjected to a masked evaluation. RESULTS: A total of 14 osteolytic lesions were recorded. In 43 of the 55 matched pairs (78%), there were identical periapical conditions. In 9 pairs, a periapical lesion was present in the „open“ tooth category, whereas in 3 pairs, a periapical lesion was seen exclusively in the „intact“ tooth. Though the odds-ratio for a lesion to be present in the „open group“ was 3. 0, this was not a statistically significant result (P >.10). CONCLUSIONS: Data suggest that the problem of coronal leakage may not be of such a great clinical importance as implicated by numerous studies in vitro, provided instrumentation and root fillings are carefully performed.

PMID: 10982958 [PubMed – indexed for MEDLINE]

 

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