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Die medizinischen Basics

1. Jeglicher ärztliche Eingriff dient primär dazu, den erkrankten Organismus in seiner ihm eigenen, nicht zu unterschätzenden Tendenz zur Selbstheilung zu unterstützen, um ihn so in die Lage zu versetzen, den Angriff zu überwinden und geheilt zu werden.
Für die Gangränbehandlung bedeutet dies, dass wir einen guten Zugang zum entzündlichen Geschehen schaffen (Trepanation), den Körper vom Überfluss schädlicher Aggressoren befreien (sorgfältige Aufbereitung), anschließend sorgfältig desinfizieren müssen, um möglichste Keimarmut herzustellen (medikamentöse Einlagen), Sorge dafür  tragen müssen, dass der Zugang und damit der Ausgang bis zum Abklingen der Entzündung unter der Vermeidung einer Reinfektion nicht unnötig versperrt wird (bedingtes Offen-Lassen) und nach Überwindung der Erkrankung eine Reinfektion verhindern müssen (sorgfältiges Abfüllen und dichter Verschluss).
 
2. Angriff und Abwehr. Das Risiko des instabilen Gleichgewichtes.
Der menschliche Organismus befindet sich in einem permanenten Kriegs-Zustand. Aggressoren von außen und auch von innen greifen ihn ständig an und müssen genau kontinuierlich abgewehrt und eliminiert werden, um eine gesunde Ganzheit zu erhalten. Die Verteidigungsanlagen bestehen zunächst in der Unversehrtheit der äußeren Hülle. Gelingt es einem Aggressor (z.B. Bakterien) diesen äußeren Verteidigungsring zu überwinden oder kommt er von innen (z.B. entartete Zellen), ist  der zweite Verteidigungsring - das Immunsystem - gefordert.
Nicht jeder Organismus ist in seiner Verteidigungsfähigkeit gleich gut konstruiert. Bei vielen gibt es sogenannte  "Stellen  mit verminderter Widerstandskraft" (locus minoris resistentiae). So kann man beispielsweise in der Zahnheilkunde erklären, warum es auf der einen Seite Individuen gibt, die trotz mäßiger Mundhygiene keinerlei Zeichen einer Parodontitis entwickeln, auf der anderen aber auch solche, die trotz aller Bemühungen um eine exzellente Hygiene eine therapieresistente Parodontitis entwickeln.
 
Die Fähigkeit der Aggressoren, Verteidigungslinien zu überwinden und Krankheit zu erzeugen, ist zum einen abhängig von ihrer Potenz und Aggressivität, zum anderen aber auch von ihrer absoluten Zahl. Es ist beispielsweise in der Regel eine in Abhängigkeit der Potenz des Aggressors bestimmte Zahl von Keimen erforderlich, um Krankheit zu erzeugen. Dieses Phänomen ist bei vielen Infektionskrankheiten nachgewiesen und zu beobachten.
Die Qualität der Immunabwehr ist nicht immer gleich gut. Sie ist abhängig von körperlichen Faktoren, wie z.B. dem Ernährungszustand, der Abwesenheit allgemeiner Grunderkrankungen und Stoffwechselstörungen, aber genau so von psychischen Faktoren und Stress. Negativer Stress (Missverhältnis zwischen Anforderung und Bewältigungskompetenz) kann  wissenschaftlich nachgewiesen die Immun-Reaktion ganz erheblich reduzieren (sog. Manager-Parodontitis).
 
Für die Gangränbehandlung bedeutet dies,
dass wir dafür Sorge tragen müssen, die Zahl der Aggressoren durch sorgfältige Desinfektionsmaßnahmen auf eine Zahl zu reduzieren, mit der der Organismus dann endgültig  fertig werden kann. Gelingt das nicht, besteht die große Gefahr, dass wir lediglich ein instabiles Gleichgewicht erzeugen helfen, in dem sich Angriff und Abwehr die Waage halten. Gleichzeitig bedeutet ein solcher Zustand des instabilen Gleichgewichts, dass der Organismus kontinuierlich und aktiv damit beschäftigt ist, diesen Gleichgewichtszustand aufrecht zu erhalten. Kommt es zu einer Depression in der Immunantwort (Erkrankung, Stress, usw.) besteht die Gefahr, dass die lokale Abwehr zusammenbricht und es zur Exazerbation  des Prozesses kommt. Dieses Phänomen beobachten wir recht häufig in der Endodontie.
 
3. "ubi pus, ibi evacua" (wo Eiter ist, da sorge für Abfluss).
Dieser zwar alte, aber dennoch nach wie vor allgemeinmedizinische Grundsatz gilt selbstverständlich nicht nur für Eiter, sondern auch für die aggressiven Stoffwechselprodukte der Bakterien und die Zerfallsprodukte menschlichen Gewebes.
Für die Gangränbehandlung bedeutet dies, dass wir bis zum endgültigen Abklingen der Entzündung dafür Sorge tragen  müssen, dass diese Aggressoren den Körper nach außen, also in Richtung Mundhöhle, verlassen können, und dass sie nicht gezwungen sind, dies in Richtung Kieferknochen zu tun, wo sie ja von einer möglicherweise überforderten Immunabwehr abgewehrt werden müssten.  
Eine Gangrän ist nicht anderes als ein intradentaler Abszess. Genau so wenig, wie man auf die Idee kommen würde, einen extradentalen Abszess dicht zu verschließen (man legt vielmehr eine Lasche ein, um einen Verschluss zu verhindern), darf man einen intradentalen Abszess primär verschließen, so lange nicht sicher gestellt ist, dass die Bakterien vollständig eliminiert sind.
Eine periapikale Knochen-Aufhellung ist nichts anderes als ein frühes Stadium einer Osteomyelitis, die von den Knochenchirurgen gefürchtetste Komplikation ihrer Bemühungen, das sie nur sehr schwer zu heilen ist. Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass es sinnvoll ist, einem Desinfiziens über den Wurzelkanal Zugang zu diesem Entzündungsherd zu verschaffen, um ihn vor dem Verschluss  auszuheilen.
Die Bemühungen der sog. modernen Endodontie, einen aufbereiteten  Zahn frühzeitig, also möglichst in erster Sitzung zu verschließen, laufen dieses Basics diametral entgegen und haben ganz andere, inneramerikanische Motive (siehe Fragen zum Konzept). Ein solches Ansinnen, insbesondere bei gangränösen Zähnen, birgt das Risiko, solche wie unter 4. beschriebene instabile Gleichgewichte zu schaffen und führen zu Misserfolgen (Zystenbildung, Exazerbation, Fistelung, WSR., Extraktion) und Antibiotika-Missbrauch. 
 
4. Was heilen soll, muss ruhig gestellt werden.
Ein gebrochenes Bein gipsen wir ein, ein verrenktes Glied stecken wir in eine Schlinge, einem schwer erkrankten Mensch verordnen wir vollständige Bettruhe. All dies sind adäquate Maßnahmen, den Organismus in seiner Tendenz zur Selbstheilung zu unterstützen.
Für die Endodontie bedeutet dies, das wir den erkrankten Zahn möglichst großzügig außer Kontakt schleifen müssen, um ihn ruhig zustellen. Durch die Entzündung im Zahn, durch die Gase, die sich beim nekrotischen Zerfall menschlichen Gewebes bilden und durch die dadurch induzierte entzündliche Reaktion im periapikalen Gewebe wird der erkrankte Zahn leicht aus der Alveole gedrückt und bekommt so mehr Kontakt (reaktive Frühkontakte) als seine gesunden Nachbarn. Dieser für die Heilungsaussichten  einer Erkrankung  paradoxe Zustand, dass derjenige, der erkrankt ist, die größte Last trägt, muss in der ersten Sitzung sofort unterbrochen werden, damit sich kein Teufelsrad in Bewegung setzt. Insbesondere Lateral-Kontakte sind sorgfältig zu eliminieren (Einschleifen, mit Occlusionspapier fest zubeißen und bewegen lassen, nochmals einschleifen).
 
5. Die erfolgreiche Gangrän-Behandlung erfordert Geduld und Zeit.
Eine gangränöse Zahnerkrankung ist immer mit einer entzündlichen Reaktion des periapikalen Gewebes verbunden. Auch wenn dieses Phänomen in einer frühen Phase der Erkrankung  möglicherweise röntgenologisch noch  nicht darzustellen ist. Um einen Prozess röntgenologisch nachweisen  zu können, muss ja erst einmal eine  vermehrte Strahlendurchgängigkeit erreicht sein. Das dauert eine gewisse Zeit. Deshalb darf dieser Zustand nicht mit der Abwesenheit von Entzündung im Knochen verwechselt werden.
Die entzündlichen Veränderungen im Knochen sind nicht in kurzer Zeit entstanden. Gerade bei gangränösen Zähnen ist die Exazerbation ja häufig genug das Ergebnis eines lang andauernden Prozesses. Viele dieser Prozesse bleiben aufgrund eines potentiell instabilen Gleichgewichtes über lange Zeit klinisch unauffällig und  werden deshalb ja auch häufig nur zufällig  im Zusammenhang mit routinemäßigen Röntgenuntersuchungen und Vitalitätstestungen entdeckt.
In diesem Sinne besteht überhaupt keine Veranlassung zu der Forderung oder Erwartung,  diesen Prozess in einer einzigen zahnärztlichen Sitzung, vielleicht sogar noch unter Einsatz von Antibiotika, heilen zu müssen, zu wollen oder zu können.
 
6. Technik ist Technik, Klinik jedoch Klinik. Und  die Klinik ist hier  der überlegene Parameter.
 Das unter 4. beschriebene Phänomen der reaktiven Frühkontakte findet sein klinisches Pendant in den Aussagen sensibler Patienten, die einen pulpitischen Zahn regelmäßig als "zu hoch" beschreiben.
 
Für die vollständige Ausheilung ist keinerlei technischer Nachweis möglich. Röntgenologisch ist ein aktiver Prozess von einem abgeheilten nicht zu unterscheiden. Lediglich der abheilende Verlauf mit vollständiger Rückbildung  oder zumindest der Tendenz zur Reduzierung der Aufhellung anhand zweier Röntgen-Aufnahmen zu unterschiedlichen Zeitpunkten gibt einen verwertbaren  Hinweis.
 Wir sind also gut beraten, so lange so sorgfältig zu behandeln, bis uns die Klinik verlässliche Hinweise auf die Überwindung der Erkrankung gibt, ehe wir den Zahn endgültig abfüllen und verschließen. Das erspart unnötige Revisionen, Resektionen und Extraktionen.
 
Die Timbuktu-Methode kommt weitgehend ohne übertriebenen technischen Aufwand aus und versucht nicht, mangelnde ärztliche Kunst durch technische Raffinessen zu kompensieren. Antibiotika sind bis auf wenige Ausnahmen (Abszess) überflüssig. Jeder Behandlungsschritt baut auf dem vorhergehenden auf und fußt auf zuverlässigen, klinischen Zeichen und Befunden. Bei den entsprechenden klinischen Anzeichen ist ein Zurück auf den letzen Behandlungsschritt zu jeder Zeit möglich. Abgefüllt und verschlossen wird erst, wenn die klinischen Befunde anzeigen, dass mit großer Wahrscheinlichkeit auf langfristigen Erfolg auch verschlossen werden kann und verschlossen bleiben wird.
 
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