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8. Fallbeispiel Migräne

 

Was iatrogen induzierte Traumata nicht nur am Knochen und am Parodont, sondern vielmehr auch am ganzen Menschen anrichten können, zeigt dieser Fall einer ca. 40-jährigen Patientin. Sie hatte uns wegen einer Routineuntersuchung aufgesucht, und nicht,  wie man vermuten würde, wegen ihrer migräneartigen Kopfschmerzen, weil beispielsweise ihr Neurologe  sie zur Abklärung einer möglichen zahnärztlichen Ursache überwiesen hätte.

Sie litt seit über 4 Jahren an heftigsten Migräneanfällen, war von Pontius nach Pilatus gerannt, hatte Mengen unterschiedlichster Tabletten geschluckt, war Monate lang arbeitsunfähig gewesen und hatte in ihrer Sorge auch reichlich privates Geld für allerlei alternative Behandlungsmethoden aufgewendet.

Die 3 überkronten Zähne 16,36,46 und der natürliche 26 waren extrem zu hoch, auf Kälte hypersensibel und hatten einen deutlichen Lockerungsgrad von L=2. Diese Zähne  standen dermaßen unter Druck, dass wir sie an drei Tagen hintereinander einschleifen mussten, weil sie nach jeder Sitzung wieder zentrische  und laterale Frühkontakte zeigten. Bei den übrigen Zähnen zeigten sich Lockerungsgrade von L=0 bis L= 1.   

 Während des anamnestischen, aufklärenden Gesprächs im Rahmen der eingeleiteten Schienen-Therapie,  erinnerte sie sich plötzliich, dass ihre Kopfschmerzen-Attacken in  engem zeitlichen Zusammenhang mit  dem Einsetzten der Kronen begonnen hatten.

Es bestand ein deutliches Missverhältnis zwischen der gar nicht mal schlechten Mundhygiene und den offensichtlichen klinischen  und röntgenologischen Zeichen einer progredienten Parodontitis. Nach Einschleifen, Schienen-Therapie, erneutem mehrmaligen Einschleifen, systematischer PAR-Behandlung und regelmäßigem Gebrauch von Interdentalbürstchen, sind alle Zähne jetzt L=0. Und die Migräne ist völlig verschwunden.

Als wir sie das erste mal trafen, sahen wir  eine kranke, verhärmte, leidende, depressive Person. Nach Abschluss der Behandlung hatte sie sich in die lebensfrohe Frau zurückverwandelt, die sie früher einmal gewesen war und sah aus wie das blühende Leben.

Besonders stark sind die Schäden naturgemäß im Oberkiefer, wo der Knochen immer eine gegenüber dem UK verminderte Qualität aufweist und in der Folge wesentlich weniger resistent gegen traumatische Schäden ist.

In den vom Okklusions-Trauma nicht betroffenen Knochenabschnitten liegt hingegen ein für durchschnittliches Hygieneverhalten altersentsprechender Knochenverlust vor.

Auf dem OPT sieht man sehr schön, dass sich der Knochenverlust deutlich auf den Bereich an und um die 3 traumatisierenden Kronen und selbstverständlich auf die Gegenbezahnung konzentriert (Klick!)

Der vorliegende Fall ist sicher ein sehr schönes Beispiel dafür, wie eine iatrogen erzeugte Malokklusion über Zwischenstufen zur Gebissdestruktion, zum Schmerz und letztlich zur Depression führt. Das Knirschen und Pressen muss in diesem Falle als frustraner Selbstheilungsversuch interpretiert werden. Die Patientin hat also praktisch versucht, die Ursache für ihr Unglück durch Knirschen und Pressen zu beseitigen.  Wenn man bedenkt, dass die Lockerungsgrade schon L=2 erreicht hatten, war sie davon ja auch nicht mehr sehr weit entfernt.

Medizinisches Basics:

Auf " Zahnmedizin"  wird immer wieder die Frage diskutiert, ob "schlechte Gewohnheiten" und die daraus resultierenden Gebissschäden nun primär eine Folge der Malokklusion sind, dass also diese zuerst bestehen müssen, um  dann reflektorisch die schlechten Gewohnheiten auszulösen, was dann über den  Schmerz in  die Depression führen kann, oder aber ob zunächst psychisch induzierte, myogene Spannungssituationen da sind, die ihrerseits  die schlechten Gewohnheiten auslösen und in der Folge zur Malokklusion führen. 

Auf "Medizin" lautet die Frage übrigens, ob der Schmerz die Depression auslöst oder die Depression den Schmerz.

Diese Frage wird leider immer noch als Alles-Oder-Nichts-Frage im Sinne eines Dogmas  diskutiert, und die momentane Meinung wechselt  regelmäßig, je nach dem, welcher Experte sie gerade dominiert. Dabei wird übersehen,  dass es in der menschlichen Natur selten ganz schwarz oder ganz weiß, dafür aber um so mehr  grau gibt. Diese Mischbilder nennen wir auch Mosaike. Wir sehen also selten solche klassischen Bilder wie diesen Fall, bei dem  wir eindeutig aussagen können, dass es sich um ein iatrogen induziertes Okklusions-Trauma handelt. Wir denken und wissen uns dabei in guter Gesellschaft, dass es wie meistens in solchen Fällen mit wechselnden Mehrheiten in der Regel beides ist, jedoch fallabhängig mit unterschiedlicher Dominanz.

 

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