Logische Ableitung
Ich habe zu einer Zeit studiert als die Funktionsanalyse und Funktionstherapie gerade so richtig in Mode waren und im Zentrum der zahnärztlicher Lehre standen. Der zahntechnisch motivierten, rein mechanistischen Lehre der inzwischen überholten Zahnheilkunde folgend, wurden völlig gesunder Zähne beschliffen, um eine in den Augen der Behandler „perfekte Okklusion“ zu implementieren, die die Lösung aller Probleme bringen sollte.
Okklusion perfekt, Mensch gesund?.
Zum Segen für meine Patienten und mich ist dieser Kelch der Lehre mehr oder weniger zufällig an mir vorüber gegangen.
Ich erinnere mich noch, als ob es gestern gewesen wäre. Ich saß mehr gezwungen interessiert als gebannt in der Prothetik-Vorlesung und verfolgte einen verwirrend beindruckendenden Vortrag über die neuesten Axiographie-Techniken, als der Professor plötzlich abschweifte, um uns bedeutungsvoll beiläufig einen Schwank aus seiner Jugend zu erzählen.
Er habe sich ja schon sehr viel früher als so mancher Andere für Gnathologie interessiert. Im Rahmen seiner Habilitation habe er ausführliche Untersuchungen über die Zahnkontakte gemacht. Dabei habe er herausgefunden, dass sich die Ober- und Unterkieferzähne des Menschen während 24 Stunden insgesamt nur 4 Minuten berührten, da der einzige Kontakt während des Schluckaktes erfolge. Bei dieser Gelegenheit nehme der Mensch nämlich automatisch die Schlussbissstellung ein.
Plötzlich war ich wie elektrisiert. Ich probierte es sofort aus und schluckte hektisch. Und es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Der Mann hatte Recht. Beim Kauen war Nahrung zwischen den Zähnen und in Ruhelage Luft. Beim Sprechen sowieso. Außerdem wurde bei Schlucken ja keinerlei Kaudruck ausgeübt.
Ich fragte mich: „Wenn das denn alles so ist, wie kommen dann diese Gebiss- und Gelenkschäden zustande, über die er uns dauernd berichtet und wegen derer all die gesunden Zähne beschliffen werden müssen?“ Es konnten ja nicht die „normalen“, physiologischen Bedingungen sein, die zu Gebissschäden dieses Ausmaßes führten. Es musste sich folglich um „unnormale“, unphysiologische Zustände handeln.
Der Gedanke ließ mich nicht mehr los. Plötzlich war ich ein gnathologisch interessierter Student. Wie der Zufall so spielt, wurde auf dem monatlichen Basar der Fa. Quintessenz in der zahnärztlichen Cafeteria das Buch von Willi Schulte, „Die Exzentrische Okklusion“ angeboten. Anscheinend ein Ladenhüter. Läppische 20 Mark. Kein Mensch wollte es haben.
Durch diese glücklichen Umstände habe ich bereits ca. 1983 von Knirschern und Pressern erfahren und angefangen, mich für sie zu interessieren, zumal sie mir persönlich keinesfalls fremd waren.
Bei der Zerkleinerung von Nahrung wird auf die Zähne ein Kaudruck von ca. 20-30Kp/qcm ausgeübt. Dies jedoch nur über Perioden von geringer Dauer, und ohne dass es dabei zu direkten Zahnkontakten kommt. Es ist schließlich Nahrung zwischen den Zähnen . Eingefleischte Presser erzeugen bei unphysiologischen Zahnkontakten Drücke von bis zu 900Kp/qcm, also das 20- bis 30fache. Und dies während langer Perioden von bis zu 40 Minuten Dauer, insbesondere während des Schlafes und unter direktem Zahnkontakt. Besonders schlimm muss es übrigens bei Alpträumen sein, wie mir eine Patientin, die jede Nacht darunter leidet und ihre Schiene in weniger als drei Monaten schafft, berichtet.
Unter diesem Aspekt werden die zu beobachtenden Schäden bei einem solchen „Missbrauch der Zähne“ leichter verständlich.
Bis auf die Eckzähne, die aufgrund ihrer Anatomie (dreieckige Form, lange Pfahlwurzel) dazu prädestiniert sind, die Zahnreihen bei den Laterotrusionsbewegungen auseinander zuführen, sind alle anderen Zähne nur für eine axiale, zentrische Belastung konstruiert. Exzentrische Belastungen, insbesondere wenn sie mit der beschriebenen unphysiologischer Wucht und Gewalt daher kommen, können in der Folge nicht schadlos verkraftet werden.
Mein alter Prothetik-Professor ist mir seit diesem Erlebnis in tragischer Erinnerung. Er hatte seit den Untersuchungen für seine Habilitation, das muss so in den späten 50igern gewesen sein, alle Fakten in den Händen gehalten, bedeutende Erkenntnisse in der Zahnheilkunde zu gewinnen und zu publizieren. Nur hatte er zu keinem Zeitpunkt die richtigen Schlüsse daraus gezogen.
Er kam mir vor wie Wilkins. Dieser solide Forscher hatte all das herausgefunden, was zur Entschlüsselung der Struktur der DNA notwendig gewesen war. Aber er war nicht in der Lage, daraus den einzig richtigen Schluss zu ziehen. Die dafür notwendige Brillanz brachten erst Watson und Crick mit. Sie schauten sich die Forschungsergebnisse von Wilkins et al. an, tüftelten ein Weilchen, publizierten die Doppel-Helix und bekamen den Nobelpreis.
Wilkins hat die Richtigkeit dieses Modells bis zu seinem Tode bestritten.
Es scheint sich geradezu zu einem Sport in der Zahnheilkunde zu entwickeln, die Dinge möglichst zu verkomplizieren. Viel zu viele Gurus drängeln sich in einem relativ kleinen Fachbereich und müssen sich dort profilieren. Dabei liegen die Schwierigkeiten und die eigentliche Klasse darin, die Probleme schnell und rechtzeitig zu erkennen und die Therapie einfach, geradlinig und zielorientiert zu gestalten, um so nichts desto Trotz das gleiche oder ein besseres Ergebnis in einem Bruchteil der Zeit zu erzielen.
Die Zahnmedizin der Gegenwart ist ein exponiertes Beispiel für diese Tendenz. Die Therapiekonzepte werden von ihren Protagonisten derart technisiert und verkompliziert, dass der „einfache Zahnarzt“ aus Respekt vor und Unverständnis über die für teueres Geld erkauften Verkündigungen sich nicht mehr traut, andere als die vorgezeigten Wege zu gehen. Daher lässt er es lieber gleich, weil er denkt, dass er das, was die Gurus so bringen, eh nicht leisten kann. So bleiben Fortschritt und Medizin auf der Strecke.
Überspitzt ausgedrückt kann man sagen, dass sich weit über 90% der Fortbildung mit weit unter 10% der Fälle beschäftigt. Rationelle, erfolgreiche Zahnheilkunde im eigentlichen Sinne wird praktisch nicht gelehrt. Dabei ist es der Praktiker, der weit über 90% der dieser Fälle für sich und seine Patienten erfolgreich lösen muss. So viele Spezialisten kann man gar nicht ausbilden.
In diesem zweiten Teil meiner Serie werde wir Ihnen eine rationelle und voraussagbar erfolgreiche Methode der Funktionsdiagnostik und -Therapie in den Bereichen PAR, ZE, Kons, KFO und Psychosomatik vorstellen und sie an erfolgreich gelösten Fällen praktisch demonstrieren. Dies ohne technische Überfrachtung sondern mit einfachen Mitteln, wie sie in jeder Praxis vorhanden oder für wenig Geld zu beschaffen sind.
Wir werden uns Mühe geben, Ihren Blick für die Problematik von Pressern und Knirschern zu schärfen, die ubiquitär in jeder Praxis vorhanden sind, die aber viel zu selten (oder häufig gar nicht) erkannt und erfolgreich behandelt werden. Ziel dieser Veranstaltung ist es, einen „Blick“ für solche Patienten zu gewinnen. „Sehen, Fühlen, Riechen, Schmecken, Reden und Zuhören“ sind schließlich seit jeher die essentiellen ärztlichen Untersuchungsmethoden.
Wenn es gelingt, werden Sie zukünftig weit über 90% dieser Fälle ohne großen technischen Aufwand erfolgreich lösen können. Sie werden problematische und den Erfolg gefährdende Behandler- und Patientensituationen von vorne herein erkennen und heilen lernen und sich dadurch so manchen therapeutischen Misserfolg ersparen.
Die verbleibenden paar Prozent an Patienten, deren Problem Sie nichts desto Trotz nicht lösen können werden, werden Sie auch erkennen lernen. Diese können Sie dann zu den Spezialisten schicken. Die wollen schließlich auch beschäftigt sein.
Pressen und Knirschen ist in seiner Bedeutung für Schäden im stomatognathen System und den daraus zwangsläufig resultierenden Therapieversagern wohl das international am meisten unterschätzte Phänomen in allen Bereichen der Zahnheilkunde.
Viel Spaß und Erfolg