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Fallbeispiel 57

Die Ausbildung zum Arzt für Zahnheilkunde leidet auch darunter, dass die Studenten in den ärztlichen Fächern von ärztlichen Dozenten unterrichtet werden, die über nur sehr marginale Kenntnisse in der Zahnheilkunde verfügen. Auf der anderen Seite werden sie in den zahnärztlichen Fächern von zahnärztlichen Dozenten unterrichtet, deren  Kenntnisse in der Humanmedizin aufgrund desselben Ausbildungsweges eingeschränkt sind. Das resultierende Defizit wird  immer dann besonders deutlich, wenn es um Fragen der Pharmakologie, d.h. um Wirkungen und Nebenwirkungen von Arzneimitteln geht. Die Beziehungen zwischen Dosis und Wirkung, besonders jedoch die Beziehungen  zwischen Dosis und Nebenwirkung eines Medikamentes sind für Zahnärzte genau wie für ihre zahnärztlichen  Lehrer eine Art terra incognita, die sie nur sehr zurückhaltend und mit der Furcht betreten, jemand könne durch ihre Medikation gesundheitlichen Schaden erleiden. 

Als Beispiel mag die Unsicherheit gelten, mit der  Zahnärzte reagieren, wenn die Rede auf die Anwendung von Cortison kommt. Dabei wird übersehen, dass die Menge an Cortison, die bei der lokalen zahnärztlichen Anwendung beispielsweise in Form von Ledermix in einen hohlen Zahn passt, nicht mehr als der Menge an Cortison entspricht, die die Nebenniere des betroffenen Patienten in einer viertel oder halben Stunde produziert, und in keiner Weise mit den therapeutisch wirksamen  Mengen vergleichbar ist, die Ärzte als Dauermedikation beispielsweise bei der Behandlung von  Erkrankungen aus dem rheumatischen oder allergologischen Formenkreis systemisch einsetzten müssen. Gleiches gilt in übertragenem Sinne auch für die Menge an  Formaldehyd in N2 (nach Angaben des Herstellers pro Wurzelkanal soviel wie in einem Kilogramm Äpfel) oder für die Menge an Parachlorophenol in CHKM. 

Übersehen wird außerdem, dass die verwendeten Substanzen im Hohlraumsystem des Zahnes eingeschlossen sind, daselbst nur vorübergehend verbleiben, und dass aufgrund dieser Tatsache und der Anatomie des Hohlraumsystems außer über den Apex und die Tubuli kein Kontakt zu den umliegenden Kompartimenten besteht, so dass  nur ein ausgesprochen geringer Prozentsatz der angewandten Substanzen überhaupt systemisch wirksam werden kann.

Diese grundlegende Fehleinschätzung der wissenschaftlich-pharmakologischen Bedingungen bei der Arzneimittelanwendung hat dazu geführt, dass man zahnärztlicherseits überraschend unnachgiebig auf der alleinigen Anwendung von in den Augen von Zahnärzten "biologisch verträglichen" Desinfektionsmitteln wie beispielsweise Ca(OH)2 besteht, um die im infizierten endodontischen Hohlraumsystem ubiquitär vorhandenen Bakterien abzutöten, und auf die Anwendung von bekannten, wirksameren Medikamenten bewusst verzichtet, obwohl mittlerweile sowohl national als auch international Konsens darüber besteht, dass Ca(OH)2  in sehr weiten Bereichen nicht in der Lage ist, die geforderte weitgehende Keimfreiheit nach zwangsläufig unvollständiger mechanischer Reinigung vor dem definitiven Verschluss des infizierten endodontischen  Hohlraumsystems herzustellen. "Biologisch verträgliche" Desinfektionsmittel haben nun mal zwangsläufig  die ihnen innewohnende Eigenschaft, nicht besonders wirksam beim Abtöten von biologischen Systemen zu sein, wie sie insbesondere therapieresistente Bakterien nun einmal darstellen. Ansonsten würden sie wohl kaum als "biologisch verträglich" gelten können.  Die Tatsache, dass es aufgrund dieses ängstlichen Beharrens auf einer in weiten Bereichen unwirksamen Therapie einer im Prinzip einfach zu beherrschenden Infektionskrankheit  neben dem vermeidbaren Verlust einer durchaus erklecklichen Zahl von erhaltungswürdigen Zähnen zu einer unnötigen Verschiebung weg von der Zahnerhaltungs- hin zur vorbeugenden Extraktions- und Implantationstherapie kommt, wird dabei ganz offensichtlich aus Angst vor möglichen Nebenwirkungen überlegener, jedoch in den Augen der Meinungsbildner  weniger "biologisch verträglicher"  Desinfektionsmittel billigend in Kauf genommen. 

Es ist auf der einen Seite überhaupt nichts dagegen einzuwenden, sondern vielmehr ein wesentlicher Grundsatz ärztlichen Denkens und Handelns, im Rahmen der Anwendung von Arzneimitteln, bei denen es sich ja in der Mehrzahl um Gifte handelt, sorgfältig zwischen möglichem Nutzen und möglichem Schaden abzuwägen. Dabei darf auf der anderen Seite jedoch nicht  übersehen werden, dass erst die Dosis das jeweilige Arzneimittel zum Gift werden lässt. Bei den minimalen Dosierungen, wie sie in der Endodontie vorübergehend und noch dazu in einem Hohlraumsystem mit ausgesprochen eingeschränktem Kontakt zu den umgebenden Geweben zur Anwendung gelangen, stellt sich diese Frage jedoch nicht wirklich. Genau das Gegenteil ist vielmehr der Fall: 

Das Verhältnis zwischen dem zu erwartenden Nutzen "Sicher voraussagbarer Zahnerhalt auch in schwierigen Fällen endodontischer Infektionserkrankung"  aufgrund der Anwendung wirklich potenter Desinfektionsmittel  und der potentiellen gesundheitlichen Schädigung des Patienten als Folge ihrer Anwendung kann wegen der ausgesprochenen geringen Dosierung, der strengen lokalen Anwendung und der noch geringeren Gelegenheit, systemisch überhaupt wirksam zu werden, nicht nur als ausgezeichnet eingestuft, sondern  muss vielmehr für die Anwendung von Arzneimitteln in der Medizin als beispielhaft gut  bezeichnet werden. Für den Verzicht auf ihre Anwendung und in der Folge für den Verzicht auf Zahnerhaltung und Einschränkung der Indikationsstellung zum Zahnerhalt besteht ärztlicherseits somit keine Begründung.

Shit happens und so sieht man sich in Ausnahmefällen gezwungen, Kastanien mit möglichst großer Aussicht auf Erfolg aus dem Feuer zu holen.

Im folgenden Fall wurde der Zahn 26 im Dezember 1995 aufbereitet und nach sorgfältiger Desinfektion mit CHKM mit einer provisorischen Wurzelfüllung mit Ca(OH)2 versorgt. Wenige Wochen später wurde in der vorweihnachtlichen Hektik vor dem Eingliedern der Krone die definitive Wurzelfüllung schlicht und einfach vergessen. Typischerweise passierte das ausgerechnet bei der Behandlung eines ärztlichen Kollegen. Im Januar 2003, also mehr als 7  Jahre später, stellte sich der Patient mit Schmerzen und einer deutlichen vestibulären Schwellung erneut in unserer Praxis vor. Erst jetzt wurde die Fehlbehandlung bemerkt.

Messaufnahme im Januar 2003 mit sehr deutlicher und ausgedehnter apikaler Veränderung insbesondere im Bereich der mesiovestibulären Wurzel (Klick!)

Zustand unmittelbar nach WF im Juli 2003 mit vollständiger knöcherner Ausheilung 2 Monate nach  provisorischer WF mit Zauberpaste bei klinischer Beschwerdefreiheit auch unter Belastung. Die Wurzelfüllung imponiert blass und unvollständig, weil  auf die vollständige Entfernung der Zauberpaste und auf  Guttaperchastifte  bewusst verzichtet wurde (Klick!)

Der Verlauf nach erneuter weiter Aufbereitung in üblicher Manier bewusst über den Apex hinaus gestaltete sich kompliziert. Mehrfach wurden die Stadien der Timbuktu-Methode  "CHKM, Watte, Cavit" und "Ca(OH)2, Watte, Zement" erreicht, mussten aber jedes Mal einige Tage bis wenige Wochen später wegen Aufflammen der Aufbissbeschwerden und der vestibulären Druckdolenz im Bereich der mesialen Wurzel zugunsten einer bedingt offenen Behandlung mit CHKM und Watte, unter der jedes Mal Beschwerdefreiheit hergestellt werden konnte, wieder aufgegeben werden. Auch unter der Medikation  mit Baycillin Mega und provisorischem Verschluss stellte sich Beschwerdefreiheit nur kurzfristig ein. Jede Medikation hat eben ihre Grenzen und auch CHKM ist (leider) nicht universell wirksam.

Als letztes konservierendes Mittel vor der Hemisektion der mesiovestibulären Wurzel mit der Folge der vollständigen Zerstörung der alten Restauration erfolgte nach sorgfältiger Aufklärung des Patienten über Chancen und Risiken im Mai 2003 eine mehr oder weniger provisorische WF mit Zauberpaste. Nachdem unter dieser Medikation endlich anhaltende Beschwerdefreiheit auch unter Belastung erreicht wurde, erfolgte nach 2 Monaten der (möglicherweise vorläufige) definitive Verschluss mit Endomethasone ohne vollständige Entfernung der Zauberpaste und unter Verzicht auf Guttaperchaspitzen.  

Zauberpaste besteht aus einer gleichteiligen Mischung aus cremig angerührtem N2 (zuerst anmischen) und Ledermix (unmittelbar vor Applikation untermischen) und ist ein ausgesprochen wirksames und erfolgreiches Medikament insbesondere bei der endodontischen Behandlung gangränöser Milchzähne bei schwierig zu behandelnden Kindern mit vernünftigen Eltern, das bei uns schon eine erkleckliche Anzahl von Milchzahnextraktionen und Narkosen vermieden hat.  

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